R. Schmid: Mit der Stadt in den Krieg

Cover
Titel
Mit der Stadt in den Krieg. Der Reisrodel der Zürcher Constaffel, 1503–1583


Autor(en)
Schmid; Regula
Reihe
Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich (89)
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
Preis
CHF 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Reinhard Baumann, München

Bei dieser außergewöhnlichen Publikation kamen einige Glücks- und Zufälle zusammen. Da war zunächst ein aufmerksamer, kundiger Zürcher Antiquar, der den Wert eines grau-braunen Pergamenthefts erkannte und einen vermutlich interessierten Käufer darauf hinwies. Und da war ein Käufer, der sogleich die Gelegenheit ergriff und das Objekt erwarb. Dass es sich dabei um den Reisrodel der Zürcher Constaffel aus dem 16. Jahrhundert handelte, macht für ihn das Objekt besonders bedeutsam. Ehemals war die Constaffel eine städtische zunftähnliche Vereinigung, deren Mitglieder besondere Pflichten gegenüber der Stadtrepublik hatten. Adelige, Patrizier und Kaufleute kamen in der Stube „Zum Rüden“ zusammen, ein Ort, der noch heute in Zürich als Gasthaus existiert. Der Käufer des Objekts gehört der Constaffel, heute eine gemeinnützige Gesellschaft, als Altconstaffelherr an. Für ihn, den Professor Dr. med. Heinz O. Hirzel, stand nicht nur von Anfang an fest, dass der Fund nicht in seinem Besitz verborgen bleiben konnte, sondern ins Constaffel-Archiv eingereiht werden musste und dass es auch einer sorgfältigen Erschließung, Digitalisierung und Publikation bedurfte. Und dann kam ein weiterer Zufall ins Spiel. Der Altconstaffelherr war bemüht die Betreuung des Objekts in erfahrene und bewährte Hände zu legen und versuchte dafür Martin Illi zu gewinnen, den Autor der Geschichte der Constaffel.1 Dieser konnte wegen anderer Arbeiten nicht zusagen, erzählte aber auf einer Zugfahrt der Berner Mediävistin Regula Schmid davon, mit der er zufällig ins Gespräch kam. Bei ihr stieß das Objekt nicht nur auf Interesse, sondern seine Erschließung und Publikation fügte sich trefflich in ihr aktuelles, vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Projekt zur mittelalterlichen Wehrkultur in mittelalterlichen Schweizer Städten.2 Regula Schmid gelang es dann fachkundige Mitarbeiter zu finden, allen voran Barbara Schmid für die Transkription der Texte. Es wirkten aber auch Teams aus Sprach- und Mundartforschung (Schweizer Idiotikon, Urner Mundartwörterbuch) sowie ausgewiesene Experten für städtische mittelalterliche Militärgeschichte wie Peter Niederhäuser mit.

Man muss diese Geschichte erzählen, um die Bedeutung der Publikation einschätzen zu können. Sie ist nicht nur in ihrer Entstehungsgeschichte, sondern auch in ihrer Präsentation und ihren Ergebnissen herausragend.

Eigentlich hatte Zürich im Spätmittelalter seine Wehrpflicht und damit sein Aufgebot über die Zünfte organisiert. Es gab aber auch Personen, die nicht Mitglied einer Zunft waren. Sie wurden der Constaffel zugeordnet: also alle, die kein als zünftig erfasstes Gewerbe und Handwerk ausübten, nämlich alle Bürger, Hintersässen und Witwen ohne Zunftrecht, Arbeiter wie die Holzfäller und die Bewohner des „Kratzquartiers“ (S. 14), in dem die Ärmsten der Stadt wohnten. Den Goldschmieden, Seidenstickern, Glasern, Tuch- und Salzhändlern war es freigestellt, sich der Constaffel oder einer Zunft anzuschließen. Außerdem gehörten mehrere der auf dem Land Ansässigen, die mit Zürich ein Sonderbürgerrecht verband, sowie Zürcher Lehensträger zur Constaffel. Die Angehörigen der Constaffel sind also von erheblicher gesellschaftlicher Bandbreite und dies macht den Reisrodel für gesellschaftsgeschichtliche Untersuchungen besonders bedeutsam.

Für alle Mitglieder der Constaffel galt, über diese Gesellschaft ihre Reispflicht (d.h. ihre Pflicht zum Kriegsdienst für die Stadt) zu erfüllen, entweder persönlich oder durch die Stellung eines Ersatzmanns oder eines tatsächlichen Söldners. Lediglich Frauen im Kratzquartier, die nicht selbständig einem Haushalt vorstanden und nicht über genügend Geld verfügten (Frauen in diesem Stadtteil waren ohnehin vielfach finanziell schlecht gestellt), mussten keinen Söldner stellen. Auch in dieser Hinsicht ist die Constaffel ein besonders ergiebiger Untersuchungsgegenstand, finden sich doch in diesem Teil des städtischen Aufgebots Reispflichtige ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten ebenso wie Söldner aus unterschiedlichen Beweggründen – für persönlich nicht dienende Patrizier genauso wie für Frauen, die selbst nicht der Reispflicht nachkommen konnten. Die Constaffel zog auch nicht wie die Zünfte unter eigenem Banner aus der Stadt, sondern reihte sich unter dem Stadtbanner ein.

Reisrodel gab es nicht nur in Zürich. Unter anderen Bezeichnungen („Soldbuch“, „Raisbuch“, „verzaichnus“, „fußknechtregister“ u.ä.) und in anderer Gestaltung finden sie sich in vielen Städten im deutschsprachigen Raum und wahrscheinlich darüber hinaus.3 Der Zürcher Rodel ist allerdings ein besonderes Dokument: ein in Pergament gebundener Papierband (320x220x8 mm), unpaginiert und mit eingelegten Zetteln. Das Besondere ist die durch die Bindung entstandene Sammlung von Auszügen der Stadtrepublik Zürich in achtzig Jahren des 16. Jahrhunderts. In anderen Städten blieben solche Rodel eben deshalb nicht der Stadtgeschichtsforschung erhalten, weil sie als lose Listen oder Zettel verloren gingen oder nicht als zur Aufbewahrung würdig erschienen.

Der „Constavell Reys Rodell“ (S. 30) hingegen hat auch wegen seiner Form überlebt, zum Glück für die Zürcher Stadtgeschichte und die Erforschung städtischer Wehrorganisation. Das Büchlein gibt nämlich in mehrfacher Hinsicht Auskünfte dazu. Zunächst liefert es einen Überblick zur militärischen Leistung der Constaffel bei allen Auszügen Zürichs zwischen 1503 und 1583, seien sie vom Zürcher Stadtregiment oder von der eidgenössischen Tagsatzung beschlossen. Das Zürcher Aufgebot und damit die Beteiligung der Constaffel sucht man deshalb bei den großen Schweizerschlachten von Bicocca (1522) und Pavia (1525) vergeblich, weil Zürich als einziger eidgenössischer Ort der Soldallianz mit Frankreich nicht beitrat. Aber in den innerschweizerischen Kriegen (Reformationsunruhen im Berner Oberland 1528, Kappelerkriege 1529–1531) zwischen den katholischen und den reformierten Orten mobilisierte die Constaffel dann ebenso ihre Reispflichtigen und Söldner wie im Müsserkrieg (1531–1532) und bei Einsätzen zur „beschirmung unnsers vatter lands und zuo trost Gmeyner Eydtgnoschafft“ (S. 123). Der Reisrodel dokumentiert sämtliche Aufgebote bis 1583. Der Schock der Niederlage in der Schicksalsschlacht von Kappel um das alte oder das reformierte Bekenntnis wird auch im Reisrodel deutlich: Er enthält 1531 keine Auszugsliste, sondern einen Kommentar des Constaffelschreibers, der in Übertragung lautet: „Und es ging leider schlecht aus, und jedermann lief fort in die Schlacht, so dass niemand daheim blieb.“(S. 117) Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Rodel weit über reine Aufgebotslisten hinausgeht, wie er viel mehr als bloße Namen enthält, wie er auch zur kommentierten Chronik wird!

Der Reisrodel ist aber auch eine Sammlung von Militärverwaltungsakten, die einiges mehr an Informationen birgt als nur die oft üblichen Namenslisten von Feldzugsteilnehmern. Verschiedene städtische Schreiber haben Stellvertreter vermerkt, Söldner, Bewaffnung, Soldhöhe, Finanzierung, begleitende Frauen. Auch die Verpflichtung von Säumern, der mitgeführte Proviant und ihre Besoldung ist festgehalten. Aus dem Rodel ergibt sich zwangsläufig, dass die Constaffel aus einer eigenen Kasse Soldbeträge und andere Kosten bezahlte. Sie verfügte außerdem, wie andere Zünfte auch, über eine eigene Zeugkammer, mit der man Reispflichtige, Stellvertreter oder Söldner ausrüsten konnte, die selber keine eigene Rüstung und Bewaffnung besaßen.

Der Rodel gibt in der Zeitspanne von achtzig Jahren einen Einblick in die militärischen Veränderungen. So werden Dienstgrade seit den 1530er-Jahren immer häufiger genannt: Nicht nur der Hauptmann, sondern Rottmeister, auch der „Lütiner“ (S. 97) als des Hauptmanns Stellvertreter, der schon 1560 nach französischem Vorbild zum „Lütinant“ (S. 133) wird (Sprachvarianten, die bei den Landsknechten im Wechsel vom „Leutinger“ zum „Leutnant“ ihre Parallele finden). Aber auch Formation und Bewaffnung verändern sich. Die Hellebarde wird immer mehr durch den Langspieß ersetzt, bei der Constaffel wird ein Schützenfähnrich genannt (die Feuerwaffen nehmen an Zahl und Bedeutung zu), zum Banner (5500 Mann) als Hauptmacht des städtischen Fußvolks tritt eine kleinere Einheit, das Fähnlein (1500 Mann).

Schließlich ist der Reisrodel auch ein Beitrag zur Frauengeschichte: Man erfährt nicht nur von Frauen wie der begüterten ehemaligen Begine Regula Schwend, die einen Söldner stellte, sondern auch von besoldeten Frauen, die Zürich verpflichtete, um das Heer zu begleiten und zu unterstützen. Sie gehörten auch zum Trossvolk der Constaffel, zu den Säumern und ihren Knechten.

Regula Schmid mit ihren Mitarbeitern hat eine beispielhafte Edition vorgelegt: auf der linken Seite die Abbildung des Originalblatts, auf der rechten eine sehr sorgfältige Umschrift des ganzen Textes, so weit wie möglich zeilengerecht, zudem stets sachdienlich kommentiert. Sämtliche Zeichen der verschiedenen Schreiber (kleine Ringe, Kreuze, Streichungen) werden, soweit heute noch erschließbar, erläutert. Die Edition wird erst durch die künftige Benutzung durch Historikerinnen und Historiker ihren wahren Wert zeigen.

Anmerkungen:
1 Martin Illi, Die Constaffel in Zürich. Vom Bürgermeister Rudolf Brun bis zur Landizeit, Zürich 2003.
2 Projekthomepage SNF-Projekt „Martial Cultures in Medieval Towns“ (2018–2022): https://www.martial-culture.unibe.ch/ (7.7.2022).
3 Reinhard Baumann, Das Söldnerwesen im 16. Jahrhundert im bayerischen und süddeutschen Beispiel. Eine gesellschaftsgeschichtliche Untersuchung, MBM Heft 79, 1978, S. 50–65.

Redaktion
Veröffentlicht am
16.08.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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